Nowitschok: Nervengift aus dem Geheimlabor

 

Täglich entwickeln Chemikerinnen und Chemiker in den Laboratorien weltweit neue Moleküle und Materialien, die unseren Alltag erleichtern und unser Leben fortschrittlicher gestalten. Doch wie jedes Ding hat auch die Chemie zwei Seiten. So wurde (und wird vermutlich noch immer) in Geheimlaboren an gefährlichen Chemikalien geforscht. Synthetische Nervengifte wie Nowitschok sind ein Beispiel dieser Ausgeburten der Hölle.

Der Name dieses Nervengiftes dürfte zahlreichen Leserinnen und Lesern spätestens seit dem perfiden Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen und Putin-Gegner Alexei Nawalny im August 2020 ein Begriff sein. Er wurde damals mehrere Monate in Deutschland behandelt. Ein Beitrag über die Mitwirkung des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr bei der Analyse der verwendeten Nervengase und der Behandlung ist hier veröffentlicht. 

Nawalny überlebte zwar diesen Anschlag, starb aber im Februar 2024 unter ungeklärten Umständen in einem russischen Internierungslager. Er wurde 47 Jahre alt. 

Schon vor dem Anschlag auf Nawalny wurde Nowitschok gezielt eingesetzt, etwa bei einem Attentat auf den russischen Ex-Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter Julija in Salisbury, Südengland, im März 2018. Beide überlebten den Anschlag nach vielen Wochen intensiver Behandlung.

Die Basis: Phosphorsäureester

Doch was ist eigentlich Nowitschok („Neuling“), und wo kommt es her? Nun, vieles zu dieser Substanz basiert auf Mutmaßungen, auch die genauen Strukturen sind geheim. Darauf weisen viele Quellen hin. Bekannt ist aber, dass sich hinter dem Begriff „Nowitschok“ eine ganze Gruppe von Substanzen auf Phosphorsäureester-Basis verbirgt, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in russischen Geheimlabors entwickelt wurden. Bestimmte Ester der Phosphorsäure, die Dialkylphosphate, zeigen eine ausgeprägte neurotoxische Wirkung. Daher werden sie als Pestizide, vor allem als Kontaktinsektizide, eingesetzt. Die Struktur von einfachen Phosphorsäureestern ist in Abb. 1 gezeigt.

Auch die chemischen Kampfstoffe Sarin, Tabun, Soman und VX sind Ester der Phosphorsäure (H3PO4)  bzw. Phosphonsäure (H3PO3). Diese leicht flüchtigen Substanzen werden in der Regel über die Haut und Atemwege aufgenommen und wirken als spezifische Acetylcholinesterasehemmer (s. unten). In Folge der Vergiftung kann es zu Atemlähmung und Herzstillstand kommen.

Auch wenn die genaue chemische Struktur der Nowitschok-Verbindungen nicht bekannt ist, sollen sie strukturell dem Nervengift Sarin ähneln. Dieser Urahn vieler Nervengifte kommt aus deutschen „Giftküchen“. Auf der Suche nach neuen Insektenvernichtungsmitteln entwickelte der deutsche Chemiker Gerhard Schrader 1938 eine gelbliche, geruchlose Flüssigkeit: Methylfluorphosphonsäureisopropylester. Im 2. Weltkrieg wurde es als chemischer Kampfstoff unter dem Trivialnamen Sarin eingeführt, aber nicht eingesetzt.

Mutmaßliche Strukturen von Nowitschok

Dass man überhaupt etwas über die Strukturen weiß, ist dem russischen Chemiker Wil Mirsajanow zu verdanken. Er war an der Entwicklung dieser Stoffe nicht beteiligt, wusste aber durch Schadstoffmessungen in und um die Forschungsstätten von der Produktion der hochgefährlichen Substanzen. Er warnte vor den Gefahren für die Wissenschaftler und die örtliche Bevölkerung im Umfeld der Forschungsanlagen. Als er bei den Verantwortlichen kein Gehör fand, ging er mit seinen Kenntnissen an die Öffentlichkeit. Er emigrierte in den 1990er Jahren in die USA. Später veröffentlichte er die Strukturformeln einiger Substanzen der Nowitschok-Gruppe, die heute als wahrscheinlich zutreffend gelten (Abb. 4).

Binärer Kampfstoff: Aus zwei mach eins

Besonders interessant an der geheimen Entwicklung des „modernen“ Nervengiftes ist die Tatsache, dass Russland damit das internationale Chemie-Waffenabkommen umgehen wollte. Außerdem wollte man ausländischen Geheimdiensten und Forensikern den Nachweis und die Gegenmaßnahmen der Substanz so schwer wie möglich machen. Nowitschok und ähnliche Substanzen sollten daher mit Standardmethoden nicht nachweisbar sein und gleichzeitig durch Schutzkleidung, etwa Filter von Schutzmasken eindringen können. Außerdem sollten sie tödlicher, stabiler und leichter zu produzieren sein als andere Nervengifte.

Daher ist Nowitschok mutmaßlich als binärer Kampfstoff entwickelt worden. Zwei voneinander getrennt entwickelte Vorläufersubstanzen – sehr wahrscheinlich organische Phosphorverbindungen, die auch landwirtschaftlich genutzt werden können – werden dann wie ein Zweikomponenten-Kleber vermischt. Erst durch Mischen dieser stabilen und wenig giftigen Komponenten entsteht das hochtoxische Nervengift. Und nun kommt der entscheidende Trick: Da die Einzelkomponenten nicht als Chemiewaffen gelten, können diese problemlos hergestellt werden.

So ungewöhnlich die Herstellung, so mühsam ist der Nachweis des Nervengiftes. Bei Anzeichen einer Vergiftung mit einem Nervengift wird zuerst die Acetyl­cholinesterase-Aktivität untersucht. Falls diese reduziert ist, wird nach der hemmenden Substanz gefahndet. Da es keine Standard-Nachweismethoden für Nowitschok-Gifte gibt, soll das Acetylcholinesterase-Enzym aus dem Blut der Vergiftungsopfer isoliert und die Struktur des gebundenen Moleküls analysiert werden. Zu den Methoden, um Nowitschok zu identifizieren, gehören die Massenspektrometrie sowie die Flüssig- und Gaschromatographie.

Wie wirkt Nowitschok?

Nowitschok ist ein arglistiges Gift, denn wenn es eingesetzt wird, sehen, spüren und riechen die Opfer zunächst gar nichts. Die Nervengifte werden vor allem über die Atemwege aufgenommen, können aber auch durch die Haut eindringen.

Auch die Wirkungsweise des Giftes ist hinterhältig: Nowitschok blockiert als Acetylcholinesterase-Hemmer das körpereigene Enzym Acetylcholinesterase. Dieses Enzym ist verantwortlich dafür, den Botenstoff Acetylcholin in den Synapsen abzubauen, wenn er nicht mehr benötigt wird. Wird die Acetylcholinesterase blockiert, kann der Botenstoff Acetylcholin im Nervensystem nicht abgebaut werden.

Acetylcholin übernimmt normalerweise wichtige Funktionen in der Erregungsübertragung bei derMuskelkontraktion und Signalübertragung im vegetativen Nervensystem. Reichert sich der Botenstoff Acetylcholin aber im synaptischen Spalt an, bleiben die Nervenzellen dauerhaft aktiv, weil der Botenstoff dauerhaft „feuert“. Das Opfer leidet unter dauernden Muskelkontraktionen und Krämpfen, später Lähmungen.

Ohne sofortige Gegenmaßnahmen tritt der Tod dann durch Hemmung der Atmung und des Herzmuskels ein. Zusätzlich werden auch neurologische Störungen und starke Schmerzen beobachtet. Angeblich soll eine Dosis von zehn Milligramm, also die Menge eines Salzkorns auf der Haut, tödlich sein. In anderen Quellen wird die mittlere letale Dosis von Nowitschok bei Hautkontakt sogar mit nur etwa einem Milligramm angegeben, womit es zu den stärksten Nervengiften zählt. Unabhängig davon können auch nicht tödliche Dosen über Wochen starke Schmerzen beim Opfer verursachen.

Bei der Behandlung von Vergiftungsopfern steht die Dekontamination und Entfernung der Substanz durch Waschen der Haut, gegebenenfalls Entfernung von Kontaktlinsen und Ausspülen der Augen im Vordergrund. Zudem werden lebenserhaltende Maßnahmen wie etwa künstliche Beatmung eingeleitet. Als geeignete Gegengifte gelten Atropin und Diazepam, die die Acetylcholin-Wirkung aufheben, indem sie die entsprechenden Rezeptoren hemmen. Mit diesen Gegenmaßnahmen konnte Alexei Nawalny in der Berliner Charité noch gerettet werden – damals im Sommer 2020.

Dr. Jörg Wetterau

Labor für Kommunikation, Linsengericht

Quellen

Toxikologie für Chemiker, Gerhard Eisenbrand, Manfred Metzler, Georg Thieme Verlag Stuttgart, 1994

So wirkt Nowitschok | PZ – Pharmazeutische Zeitung (pharmazeutische-zeitung.de) )

Nowitschok - Nervengift aus der Sicht eines Chemikers | ScienceBlog)

Nowitschok – Wikipedia

Anschlag auf Agent: So wirken Nowitschok-Gifte (pharmazeutische-zeitung.de).

Attentat auf Alexey Nawalny: Fünf Antworten zu Nowitschok-Kampfstoffen - Spektrum der Wissenschaft

Nachweis chemischer Kampfstoffe: Serumalbumin, das Gedächtnis unseres Körpers: Zum Beitrag

Instrumentelle Analytik im Einsatz gegen Chemische Kampfstoffe: Zum Beitrag

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