Medikamentenentwicklung - wie finden Forscher den Schlüssel zum Schloss?
Folge 2: Aktuelle Chemie 2019 – Medizin und Gesundheit
Die Leitstrukturoptimierung spielt bei der Entwicklung eines neuen Medikaments eine entscheidende Rolle. Ähnlich wie einen passenden Schlüssel zum Schloss müssen die Forscher einen Wirkstoff finden, der zum Target (dem molekularen Angriffsort zur Behandlung einer Krankheit) passt und seine biologische Funktion entweder blockiert oder in Schwung bringt, je nachdem, welche Wirkung erzielt werden soll. Die biologische Aktivität allein macht jedoch noch kein Medikament. Multidisziplinäre Forscherteams – Chemiker, Biologen, Strukturforscher u. a. – optimieren das biologische und physikochemische Profil aktiver Moleküle durch Strukturabwandlungen. Ziel ist ein Molekül, dessen Eigenschaften eine Wirksamkeit und Verträglichkeit als neues Therapeutikum versprechen und die Aufnahme klinischer Prüfungen erlauben. Dieses hochkomplexe Puzzle nimmt in der Wirkstoffforschung bis zu vier Jahre in Anspruch.
Dr. Horst Dollinger, zuständig für „Review of External Medicinal Chemistry“ im Business Development beim Pharmakonzern Boehringer Ingelheim, hat fast 30 Jahre Forschungserfahrung in der Medizinischen Chemie (MedChem). Für ihn steht fest: „Wirkstoffmoleküle sind die kostbarste Währung eines Pharmaunternehmens. Die MedChem ist wie ein Hafen, wo alle Daten im Prozess der Wirkstoffforschung zusammenlaufen, Ergebnisse analysiert, neue Synthesen und Testreihen geplant werden und die nächste Runde der Optimierung gestartet wird.“
Die Forschung an Wirkstoffmolekülen hat sich dabei in den vergangenen 30 Jahren verändert. „Es ist nicht schwerer oder einfacher geworden, es wird anders“, so Horst Dollinger. Schnelleren Datenanalysen stehen immer mehr globale Informationen für Targets und potentielle Wirkstoffe gegenüber. Die Digitalisierung ermöglicht in der Leitstrukturoptimierung enorme Fortschritte, allerdings ist der Aufwand beim Testen und Optimieren von Leitstrukturen ebenfalls gestiegen. „Denn wir müssen eine Fülle von Eigenschaften des Wirkstoffes gezielt optimieren und die Wirksamkeit fundiert belegen. Der chemische Raum bzw. die Diversität der Moleküle ist für uns viel größer geworden. Das Wissen und auch die Erfahrung sind gewachsen und damit auch die Ansprüche, die an einen Wirkstoffkandidaten gestellt werden. Gleichzeitig müssen sich die Forscher aber mit immer komplexeren Molekülen beschäftigen, um die richtige Kombination von Schlüssel und Schloss zu finden. Und schon Nuancen entscheiden über Erfolg und Misserfolg“, beschreibt Dollinger die aktuellen Herausforderungen.
Moderne Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Die Forscher suchen zunächst nach Substanzen, die ansatzweise die gewünschte Wirkung auf das Target erzielen. Die Suche nach der passenden Leitstruktur ist die moderne Variante von der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Doch wie findet man die passende Leitstruktur? Am Anfang steht in der Regel das „Screening“, also das systematische Testen möglichst vieler Substanzen aus speziellen Substanzbibliotheken auf die gewünschte Wirkung. Beim High-Throughput-Screening (HTS), einem Massentest, werden diese Substanzen durchgetestet, ob sie an ein Target andocken können. Irgendwann – vielleicht erst nach mehreren tausend Tests – zeigt sich ein Treffer, ein Hit. Dem gehen die Forscher mit detektivischem Spürsinn nach, um zu prüfen, ob sich dahinter mehr verbirgt. Praktisch nie kann ein Hit direkt als Wirkstoff verwendet werden, und nicht alle Hits haben Potenzial zur Leitstruktur. „Nach dem Screening ist es noch ein langer Weg zum Kandidat. Es ist ein iterativer Prozess, der uns am Ende nach vielen Optimierungsschleifen endlich zum Zielmolekül führt. Kommissar Zufall spielt auch manchmal eine Rolle, wenn überraschende Eigenschaften eines Wirkstoffs beobachtet werden“, weiß Horst Dollinger aus Erfahrung.
Ergänzend zum HTS nutzen die Forscher das Fragment-basierte Screening (FBS). Dabei werden Molekülfragmente getestet, die nur ein Drittel bis halb so groß sind wie die HTS-Testsubstanzen. Rund 2.000 Fragmente werden typischerweise in einem FBS-Testverfahren auf ihre mögliche Interaktion mit dem Target überprüft. „Ihre geringere Komplexität macht die Wahrscheinlichkeit einer schwachen Bindung zum Target größer. Voraussetzung sind speziell angepasste, empfindliche biophysikalische Testverfahren, um die vergleichsweise schwache Bindung dieser Fragmente zu erfassen“, erklärt Dr. Dollinger. In weiteren Iterationen (idealerweise in Kombination mit Strukturinformationen) lässt man dann die Fragmente zu potenziellen Leitstrukturen „wachsen“. Von diesem Vorgehen erwarten die Forscher Leitstrukturen mit besonders effizienter Bindung zum Target.
Erst virtuell, dann experimentell
Immer mehr Bedeutung gewinnt das virtuelle Screening. Bei diesem Verfahren werden alle vorhandenen Informationen über das Target und bekannte Liganden für die Entwicklung von Computermodellen genutzt. Die besten virtuellen Treffer werden weiteren rechnerischen Tests unterzogen. Durchlaufen sie diese erfolgreich, stellen die Forscher sie her und testen sie experimentell auf ihre Wirkung.
In der Regel dauert es fast ein halbes Jahr, bis eine ausreichende Anzahl an Hits gefunden und charakterisiert ist. Erfüllen die Hits bestimmte Minimalanforderungen und zeigen sie Potenzial für eine Optimierung, gelten sie als Leitstrukturen.
Viel Schweiß, Hartnäckigkeit und Erfahrung sind nötig, um anschließend die Eigenschaften der zuvor gefundenen Leitstrukturen zu optimieren und eine Vielzahl von physikochemischen und biologischen Parametern in bestimmten Grenzen zu halten. Problem und Herausforderung: Jede Veränderung der Molekülstruktur verändert die physikalischen und biologischen Eigenschaften der Substanz, und manchmal ist die Änderung kritischer Parameter gegenläufig. In Optimierungszyklen werden Beziehungen zwischen Struktur und Aktivität beziehungsweise Eigenschaften identifiziert, die die weitere Optimierung leiten. Dabei sind häufig sehr komplexe Syntheseschritte nötig, um zu den gewünschten Zielmolekülen zu kommen.
Eine hohe Potenz und Selektivität für das Target sind aber nicht ausreichend. Nur Substanzen, die geeignete ADME-Eigenschaften aufweisen, eignen sich als Wirkstoffe. ADME steht für die Aufnahme (engl. absorption – A), die Verteilung im Organismus (engl. distribution – D), die Verstoffwechselung (engl. metabolism – M) und die Ausscheidung (engl. excretion – E). Bei diesen ersten Untersuchungen scheitern bereits mehr als 80 Prozent aller Substanzen, die daraufhin durchs Raster fallen. Wichtig ist zudem zu untersuchen, ob eine Substanz die Aufnahme, Verteilung oder Ausscheidung eines anderen Wirkstoffes potenziell beeinflussen kann und welche Wechselwirkungen bei gleichzeitiger Einnahme möglicherweise auftreten.
Im Prozess einer Medikamentenentwicklung können dabei tausende neuer Substanzen entstehen. Die meisten schaffen es am Ende zwar nicht ins Medikament, stehen jedoch in einer Substanzbibliothek vielleicht irgendwann als Leitstruktur für eine andere Krankheit im Fokus.
Versuch und Irrtum
Datenbanken und auf Computer-Modellen basierende Vorhersagen von Eigenschaften unterstützen den Optimierungsprozess, können aber Überraschungen nicht ausschließen. Das gilt besonders für die Verträglichkeit einer optimierten Substanz, die in toxikologischen Studien bestimmt wird. „Hier arbeiten wir immer noch nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip; wir stellen mehrere potenzielle Kandidaten für ein Projekt zur Verfügung und hoffen, dass sich daraus einige für die weitere Entwicklung eignen“, erklärt Dollinger.
Am Ende muss der optimierte Wirkstoff natürlich auch geschützt werden. Hier warten Pharmaunternehmen mit der Patentanmeldung möglichst lange. Denn die Patentzeit ist jene Phase, in der eine Innovation vor Nachahmern geschützt ist und in der die enormen Entwicklungskosten eines Präparats wieder „eingespielt“ werden können. Und je länger nach Zulassung eines neuen Wirkstoffs dieser patentrechtlich geschützt ist, desto länger kann diese Phase genutzt werden. Daher findet die Leitstrukturoptimierung fast immer gut gehütet und unter strengster Geheimhaltung in den Forschungslaboren der Unternehmen statt.
Mag der Weg zur Leitstrukturoptimierung auch von Rückschlägen gesäumt und manchmal mit Frust verbunden sein, bei Forschern wie Dr. Horst Dollinger überwiegt immer die Neugier und der Forscherstolz: „Wir dürfen uns glücklich schätzen, bei der Entwicklung von Wirkstoffen an vorderster Front forschen zu dürfen und zum Erkenntnisgewinn beitragen zu können. Wenn wir Patienten mit unseren Entwicklungen helfen und ihr Leid mindern können, steckt man auch Rückschläge weg.“
Wissenschaftliche Beratung: Dr. Horst Dollinger, Director Review of External Medicinal Chemistry, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH Co. KG
Bildnachweis Titelbild: Romolo Tavani/stock.adobe.com
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