Forschung: „Bei Rückschlägen will uns die Natur etwas sagen“
Das Coronavirus hält derzeit die ganze Welt in Atem. Erste Wirkstoffe werden bereits getestet – nach kürzester Zeit. Und die Welt hofft auf eine schnelle Zulassung eines wirksamen Medikaments. Doch wie entwickelt man eigentlich ein neues Medikament? Und wie funktioniert Forschung? Professorin Dr. Helga Rübsamen-Schaeff, Gründerin und bis 2015 Leiterin des Biopharma-Unternehmens AiCuris, hat uns diese Fragen beantwortet. Sie ist Chemikerin und hat sich auf die Erforschung und Entwicklung antiviraler Medikamente gegen Herpes, Cytomegalievirus, HIV und Hepatitis B sowie neuer Antibiotika gegen multiresistente Krankenhauskeime spezialisiert. Mit dem von ihr 2006 gegründeten Unternehmen AiCuris hat sie den Wirkstoff Letermovir (PREVYMIS®) entwickelt, der gegen das Humane Cytomegalievirus wirkt und seit 2017 auf dem Markt zugelassen ist. Für diese Innovation wurde sie 2018 mit dem Zukunftspreis des Bundespräsidenten geehrt.
Letermovir (PREVYMIS®) wirkt gegen das Humane Cytomegalievirus. Was macht dieses Virus und wer braucht dieses Medikament?
Das Humane Cytomegalievirus (CMV) ist ein „Cousin“ des Herpesvirus, welches wir vom Lippenherpes kennen – allerdings ist es ansteckender. Jeder Zweite von uns ist lebenslang Träger dieses Virus, aber solange unser Immunsystem intakt ist, macht das nichts. Doch zum Beispiel für Patienten*, die sich einer Knochenmarktransplantation unterziehen müssen, kann es gefährlich werden. Vor der Transplantation wird das eigene Knochenmark zerstört, das heißt, das Immunsystem der Patienten arbeitet nicht mehr und dann ist CMV für diese Patienten lebensbedrohlich. Ihnen kann man heute Letermovir als Prophylaxe gegen die Reaktivierung von CMV geben und das erhöht ihre Überlebenschance. Am Herzen liegen mir aber auch vor allem Un- und Neugeborene. Sie haben noch kein intaktes Immunsystem und können sich im Mutterleib oder unter der Geburt infizieren. Die Folgen können geistige Behinderung oder Taubheit sein. Hierfür wurde Letermovir noch nicht getestet. Ich finde es jedoch wichtig, dass dies bald getan wird.
Wie fängt man an ein Medikament zu entwickeln? Wie war das bei Letermovir: Gab es bereits einen Wirkstoff, der wirksam war und Sie haben ihn optimiert oder womit fing es an?
Bei Letermovir haben wir ganz von vorne angefangen. Für mich waren alle bis dato verfügbaren Wirkstoffe noch nicht wirksam genug und sie hatten sehr hohe Nebenwirkungen, so dass sie nicht zur Prophylaxe einsetzbar waren. Deshalb wollte ich ein ganz neues Prinzip entwickeln. In diesem Fall haben wir neue Substanzen getestet und geschaut, ob sich die Viren in ihrer Gegenwart noch vermehren. Wirkte eine Substanz, musste man herausfinden, gegen welches Genprodukt des Virus sie wirksam ist. Heute ist das Erbgut von Viren aufgeklärt, da kann man relativ einfach feststellen, welches Zielmolekül des Virus man mit der Substanz getroffen hat. Die Alternative ist, dass man sich eine virale Struktur heraussucht, z.B. ein Enzym, und dafür einen biochemischen Test aufbaut. Zeigt der Wirkstoff Wirkung auf das Enzym, heißt das allerdings noch lange nicht, dass er in der Zelle wirksam ist. Dies muss man dann wieder im Test mit infizierten Zellen prüfen. Dabei können unterschiedliche Zielmoleküle des Virus als Angriffspunkt durchaus unterschiedlich geeignet sein. Bei Letermovir war die Zielstruktur des Virus nämlich der Terminase-Komplex, sozusagen die „Achillesferse“. Diese Schlussfolgerung haben wir gezogen, weil wir diesen Enzymkomplex mehrfach mit unterschiedlichen chemischen Substanzklassen getroffen haben.
Welche Schritte passieren dann bis zur Zulassung?
Zunächst muss man den Wirkstoff optimieren, indem man chemisch abgeänderte Moleküle immer wieder in der Zellkultur oder in biochemischen Assays testet, um zu sehen, ob die Wirkung zunimmt. Ist dies erreicht, testet man den Wirkstoff in einer Reihe biochemischer Tests, die mögliche Nebenwirkungen abbilden sollen. Sind diese negativ, erfolgt die Testung am Tier, bevor dann die Testphase am Menschen beginnt. Zunächst wird im Kleintiermodell (meist Maus) getestet, wie viel von der Substanz im Blut überhaupt ankommt und ob ein infiziertes Tier durch den Wirkstoff geschützt werden kann. Danach überprüft man die Verträglichkeit des Stoffes, meist an Nagern und im Hund. Hier wird häufig die zehnfache Dosis getestet, die eigentlich für den Menschen vorgesehen ist.
Ab wann kann ein Medikament am Menschen getestet werden?
Wenn die Verträglichkeit im Tierversuch bestätigt ist, kann man einen Antrag bei den Behörden stellen. Dabei wählt man das Land, in dem man die klinische Studie durchführen möchte und die entsprechenden Behörden dieses Landes.
Wie werden klinische Studien durchgeführt? Wo bekommt man die Studienteilnehmer her?
Klinische Studien verlaufen üblicherweise in drei Phasen. In Phase I testet man den Wirkstoff erstmals am Menschen – und zwar normalerweise an gesunden Freiwilligen. Man verabreicht die Substanz in Einzeldosen und erhöht diese nach und nach. Diese Phase soll in erster Linie zeigen, ob der Wirkstoff beim Menschen überhaupt im Blut anflutet und es wird die Verträglichkeit überprüft. Später können dann Mehrfachdosen verabreicht werden. Dann muss man darauf achten, ab wann Nebenwirkungen auftreten und ob der Spiegel erreicht wird, den man im Labor als wirksam getestet hat. In weiteren Phase I-Studien sammelt man Daten des Stoffwechsels – also man untersucht die Wechselwirkung zwischen dem Wirkstoff und unserem Organismus sowie die Spiegel in Gegenwart von anderen Medikamenten, die der Patient auch nehmen muss. Wir haben in dieser Phase zum Beispiel drei Terminase-Hemmer getestet – davon war aber letztendlich nur Letermovir geeignet. In Phase II verabreicht man dann den Wirkstoff an Patienten, die an der für die Behandlung vorgesehenen Erkrankung leiden. Hier werden Dosierung und Wirksamkeit untersucht. Bei Letermovir haben wir drei verschiedene Dosen getestet – und fanden ein Ergebnis wie aus dem Lehrbuch: Höhere Dosen waren besser als niedrige. Die höchste wirksame und nicht schädliche Dosis wird dann an mehr Patienten geprüft, um die Ergebnisse aus der Phase II zu bestätigen und abzusichern. Phase III sind große Studien, bei denen meist die Studienteilnehmer mit einer Kontrollgruppe verglichen werden, die eine andere Behandlung erhält.
Studienteilnehmer findet man über Ärzte in Kliniken. Mit diesen Ärzten bespricht man zunächst, wie die Studie aussehen soll und warum es gerechtfertigt ist, das Medikament bei dieser Patientengruppe zu testen. Das Konzept der Studie müssen die Behörden vor Durchführung genehmigen. Ist dies geschehen, sprechen die Ärzte dann Patienten an, die infrage kämen und der Ablauf der Studie wird sorgfältig besprochen. Vor Studienbeginn muss der Patient ausführlich aufgeklärt werden und ohne seine schriftliche Einwilligung nimmt er nicht an der Studie teil. Der ganze Studien- und Zulassungsablauf ist ein sehr formaler Prozess.
Sind alle Studienteilnehmer behandelt und nachuntersucht, folgt das sogenannte „data cleaning“, bei dem die Daten auf Konsistenz und Stimmigkeit geprüft werden, um mögliche Datenfehler zu beheben. Dann ist der Statistiker an der Reihe, um zu prüfen, ob die mit dem Medikament behandelten Patienten bessere Ergebnisse hatten als solche, die ein anderes Medikament oder Placebo erhielten. Vor Durchführung der klinischen Studien legt man nämlich einen primären Endpunkt fest. Dieser definiert ein Ziel, das erreicht werden muss, um zu kontrollieren, ob die Studie erfolgreich war. Es gibt aber auch noch sekundäre Endpunkte, die andere Parameter abbilden, zum Beispiel die Frage in der Phase III Studie von Letermovir, die von unserem Lizenznehmer MSD durchgeführt wurde, ob die Studienteilnehmer eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben, wenn das Virus unterdrückt wird.
Wie lange dauert der Entwicklungsprozess bis zur Zulassung?
Der ganze Prozess dauert Jahre. Es ist eine Frage der Geduld, Rückschläge sind nie ausgeschlossen und es passiert auch oft, dass man die gesamte Entwicklung abbrechen muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Medikament auf den Markt kommt, das erstmals am Menschen in Phase I getestet wurde, ist 1:10. Die Entwicklung von Letermovir haben wir 2004 begonnen, zugelassen ist es seit 2017. Zwischendurch mussten wir aber auch noch AiCuris gründen, weil unser Mutterkonzern aus der Infektionsforschung ausstieg und wir ohne die neue Firma nicht hätten weiterarbeiten können. Das war natürlich noch eine zusätzliche, enorme Herausforderung.
Krankheitserreger sind ja ganz unterschiedlich in ihrer Wirkungsweise. Inwiefern hängt die Entwicklungsdauer davon ab, spielt das dabei eine Rolle?
Prinzipiell gibt es andere Herangehensweisen und andere Testsysteme, wenn man Medikamente gegen Viren oder gegen Bakterien entwickeln will. Wir kennen heutzutage das Erbgut von Viren. Das erlaubt uns in relativ kurzer Zeit Wirkstoffe zu finden, die infrage kommen könnten, aber dann muss ja noch die Optimierung, die Testung am Tier und die Prüfung am Menschen folgen, wie schon beschrieben.
Wenn wir bei Corona diesen Weg gehen, dauert das Jahre. Deswegen hat man aktuell geprüft, ob existierende Wirkstoffe gegen andere Viren auch gegen das neue Coronavirus wirksam sind und hatte schon nach kurzer Zeit mögliche Wirkstoffe, die nun aber am Corona-Patienten zeigen müssen, dass sie das Virus unterdrücken und Patienten vor einer schweren Erkrankung oder dem Tod schützen können. Diese Medikamente gegen Sars-CoV-2 sind, wie bereits erwähnt, nicht maßgeschneidert und so zeigten kürzliche Tests mit einem dieser Wirkstoffe, Remdesivir, dass das Medikament einen positiven Einfluss auf das Krankheitsgeschehen hat, aber – wie zu erwarten – auch noch nicht das optimale Medikament ist. Dennoch ist es immerhin ein Medikament, das inzwischen bei Schwerkranken in den USA zur Behandlung zugelassen ist und eingesetzt werden kann, also ein Beginn. Um ein Virus hochwirksam zu unterdrücken, erfordert es einen maßgeschneiderten Wirkstoff. Das war auch bei Letermovir der Fall: Wir haben lange daran geforscht, dass möglichst wenig Substanz nötig war, um 50 bzw. 100 Prozent des Virus zu unterdrücken und haben den Wirkstoff dementsprechend angepasst und optimiert.
Sie haben schon Rückschläge erwähnt. Welche Rolle spielen sie bei der Forschung? Was sehen sie als größte Herausforderung in der (Viren-)Forschung?
Rückschläge müssen passieren. Ich sehe es so, dass uns die Natur mit Rückschlägen etwas sagen will. Von dem Chemiker Justus Liebig stammt das Zitat: „Auch eine Enttäuschung, wenn sie nur gründlich und endgültig ist, ist ein Schritt vorwärts.“ Jeder Rückschlag bringt uns neue Erkenntnisse. Man muss lernen, daraus zu lernen.
Die größte Herausforderung sind neue Viren, die in unserer modernen, globalisierten und eng vernetzten Welt auch künftig regelmäßig „um die Ecke“ kommen werden. Einschläge wie das Coronavirus, waren zu erwarten und werden auch in Zukunft auftreten. Wir sahen bereits in der Vergangenheit das Auftreten von Viren wie HIV, Ebola-, Sars 1-, Zika- oder das Schweinegrippe-Virus – wir werden ständig konfrontiert. Sars-CoV-2 ist allerdings im Vergleich zu dem zuerst aufgetretenen Sars 1-Coronavirus sehr infektiös und deshalb so schwierig einzudämmen.
Wenn Sie in die Zukunft blicken, auf welchem Gebiet würden Sie am liebsten arbeiten, was würden Sie am liebsten erforschen?
Am liebsten würde ich neu auftretende Viren erforschen. Ich finde es faszinierend, dass man Viren behandelbar machen kann. Nehmen wir als Beispiel AIDS: Die Forschung hat es innerhalb von 25 Jahren nach Entdeckung des Virus geschafft, die Krankheit so zu behandeln, dass Menschen nicht mehr daran sterben, sondern damit ein einigermaßen normales Leben führen können. Dieses Beispiel, aber auch die Heilbarkeit von Hepatitis C zeigt, dass unsere moderne, globalisierte Welt nur eine Waffe gegen die vielfachen Bedrohungen durch Infektionskrankheiten hat: Gute Forschung!
Wir bedanken uns für das interessante Gespräch.
Mit Helga Rübsamen-Schaeff sprach Lisa Süssmuth, GDCh.
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im folgenden Text die männliche Form verwendet, dennoch sind Angehörige aller Geschlechter gleichermaßen gemeint.
Dieser Beitrag wurde auf FaszinationChemie erstmalig veröffentlicht am 18.05.2020.
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