Faszinierend und nützlich: Dilatante Flüssigkeiten
Wie bitte, dilatant? Oder war hier Dilettant gemeint? Der Begriff ‚Dilettant‘ leitet sich vom italienischen dilettare ab, was auf Deutsch ‚jemanden begeistern oder erfreuen‘ bedeutet. Insofern wäre diese Bezeichnung auch nicht völlig falsch. Die Eigenschaften der dilatanten Flüssigkeiten lösen nämlich sowohl bei spielenden Kindern wie auch bei Materialforschern häufig Begeisterung aus.
Worum es bei dilatanten Flüssigkeiten überhaupt geht, das zeigen die beiden folgenden Videos:
Flüssigkeiten haben verschiedene Eigenschaften
Wie funktioniert das? Betrachten wir zunächst einige Grundtypen des Fließverhaltens von Flüssigkeiten. Dabei unterscheiden wir zwischen Newtonschen und nicht-Newtonschen Flüssigkeiten.
Die Viskosität beschreibt den Widerstand, den eine Flüssigkeit einer Krafteinwirkung beim Fließen entgegensetzt. Honig ist dickflüssig, hat eine hohe Viskosität, und ist damit weniger fließfähig als eine Flüssigkeit mit einer niedrigen Viskosität, wie zum Beispiel Wasser.
Flüssigkeiten bestehen aus kleinsten Teilchen, Molekülen oder Atomen, die ständig in Bewegung sind und sich dabei häufig gegenseitig behindern; etwa wie eine Gruppe von Menschen, die alle gleichzeitig versuchen in eine U-Bahn einzusteigen. Im Gedränge springen die Menschen aufgeregt hin und her, ihre Körper stoßen und reiben aneinander, und sie blockieren sich gegenseitig beim Einsteigen.
Die Viskosität ist der Koeffizient, der die innere Reibung von Flüssigkeiten beschreibt. Je größer die Wechselwirkung der in der Flüssigkeit befindlichen Moleküle, desto höher ihre Viskosität, und desto geringer ist die Fließgeschwindigkeit bei gleicher Beanspruchung (äußeren Krafteinwirkung).
Newtonsche Flüssigkeiten
Besteht ein linearer Zusammenhang zwischen Fließgeschwindigkeit und Beanspruchung, ist also die Viskosität unabhängig von der Strömungsgeschwindigkeit, so spricht man von Newtonschen Flüssigkeiten. Bei diesen nach Issac Newton (Abb. 1) benannten Flüssigkeiten ist also die Schergeschwindigkeit proportional zur Scherspannung.
Stellen wir uns hierzu folgendes Experiment vor: Wir füllen eine Plastikflasche mit schmaler Öffnung, wie sie zum Beispiel von Rennradfahrern zum Trinken benutzt wird, mit Wasser. Dann üben wir einen Druck auf die Flasche aus und messen die Menge des ausströmenden Wassers. Unsere Messungen stellen einen linearen Zusammenhang zwischen dem Druck und der ausströmenden Menge des Wassers fest. Wasser ist somit eine Newtonsche Flüssigkeit.
Nicht-Newtonsche Flüssigkeiten
Es gibt jedoch eine Vielzahl von nicht-Newtonschen Flüssigkeiten. Hätten wir zum Beispiel die Plastikflasche stattdessen mit Zahnpasta gefüllt, wäre die ausströmende Menge überproportional mit dem Druck angestiegen; das heißt, mit zunehmender Scherung in der Flaschenöffnung wäre die Zahnpasta dünnflüssiger geworden. Eine ähnliche Beobachtung hätten wir mit Blut gemacht. Bei kleinen Scherkräften weist Blut eine höhere Viskosität als Wasser auf. Unter stärkerer Scherung verformen sich die roten Blutkörperchen jedoch zu länglichen Gebilden, wodurch die Viskosität abfällt. Dadurch kann das Blut besser fließen, was das Herz beim Pumpen des Blutes durch die peripheren Gefäße entlastet.
Flüssigkeiten wie Blut oder Zahnpasta, deren Viskosität sich unter Scherung verringert, werden als strukturviskos oder pseudoplastisch bezeichnet. Die englische Bezeichnung ist ‚shear-thinning‘, daher wird im Deutschen auch der Begriff ‚scherverdünnend‘ verwendet.
Dilatante Flüssigkeiten
Füllen wir nun die Plastikflasche mit einem Gemisch aus Maisstärke und Wasser (gemischt im Verhältnis von etwa 1,5 bis 2 zu 1), so stellen wir zu unserem Erstaunen den gegenteiligen Effekt fest: Je stärker wir auf die Flasche drücken, umso weniger wird von dem Gemisch ausgetragen. Schlagen wir auf die Flasche, so verhält sich das Gemisch wie ein Festkörper: Es wird nahezu nichts aus der Flasche ausgetragen. Die Viskosität dieser Masse muss also mit zunehmender Scherung ansteigen. Eine solche Flüssigkeit bezeichnet man als dilatant. Im Englischen wird der Begriff ‚shear-thickening‘ benutzt, daher werden solche Flüssigkeiten im Deutschen auch als ‚scherverdickend‘ bezeichnet.
Beispiel für Dilatante Flüssigkeit: Oobleck
Diese Art des nicht-newtonschen Fließverhaltens ist uns vielleicht noch aus Kindertagen bekannt – vom Spielen mit Oobleck. Oobleck [sprich: Ublek] ist eine Mischung aus Maisstärke und Wasser. Der Name leitet sich von einem fiktiven Stoff aus dem Kinderbuch Bartholomew and the Oobleck von Dr. Seuss (1949) ab.
Rührt man Maisstärke portionsweise in Wasser ein, so tritt ab einer kritischen Konzentration Scherverdickung auf: Die Flüssigkeit weist dann einen bei einer bestimmten Scherrate induzierten Phasenübergang auf und seine Fließwiderstand (scheinbare Viskosität) nimmt mit steigender Scherrate zu.
Wird die wässrige Stärkesuspension sehr schnellen Bewegungen ausgesetzt, so nimmt sie einen gelartigen Zustand an; dieser ermöglicht es sogar, auf der Suspension zu laufen, Purzelbäume zu schlagen, oder Fahrrad zu fahren (siehe Videos oben).
Dieses Verhalten tritt für konzentrierte Suspensionen oder Dispersionen bestimmter Partikel auf und wird durch Faktoren wie die Größe, Form und Verteilung der Partikel beeinflusst. Die Ursache der rapiden Viskositätszunahme ist eine Strukturänderung der Flüssigkeit, die zu einer verstärkten Wechselwirkung der einzelnen Partikel untereinander führt, wodurch diese schlechter voneinander abgleiten können. In diesem Video demonstriert ein Kind die Eigenschaften von Oobleck (Quelle: rohawk/Stock.adobe):
Ursache: Wechselwirkung zwischen den Teilchen
Über Jahrzehnte hinweg wurden zwei mögliche Mechanismen als Ursache der Scherverdickung diskutiert. Eine Hypothese besagt, dass Wechselwirkungen (Reibung) zwischen den Feststoffteilchen diese in Anordnungen fixieren, die der unter Druckeinwirkung zwischen den Teilchen abfließenden Flüssigkeit einen Widerstand entgegensetzen. Die andere Hypothese nahm an, dass die Strömung, die durch das Abfließen der Flüssigkeit entsteht, die Teilchenbewegung verlangsamt und die Teilchen in transienten ‚Hydro-Clustern‘ fixiert. Durch Untersuchungen an den Universitäten Cornell und Edinburgh konnte im Jahr 2015 die zweite Hypothese ausgeschlossen werden. Der wichtigste Mechanismus für die Scherverdickung ist daher die Wechselwirkung zwischen den Teilchen.
Maisstärke besteht überwiegend aus dem stark verzweigten Amylopektin-Netzwerk sowie aus Amylose, einem linearen Polymer mit helikaler Struktur. Wird das Wasser-Maisstärke-Gemisch starken Kräften, also raschen Bewegungen, ausgesetzt, werden Wassermoleküle zwischen den Polymersträngen verdrängt, wodurch sich verstärkt Wasserstoffbrücken zwischen den Molekülen ausbilden. Der detaillierte Mechanismus, der zur Scherverfestigung führt, wird derzeit aber noch weiter diskutiert.
Lange Zeit führten Oobleck und andere dilatante Flüssigkeiten als Spielzeug und wissenschaftliche Kuriosität lediglich ein Nischendasein bevor das anwendungstechnische Potential der stoßabsorbierenden Wirkung erkannt wurde.
Technische Anwendungen von dilatanten Flüssigkeiten
Ende der 1990er Jahre begannen verschiedene Unternehmen, Behörden und das Militär die Anwendung von scherverdickenden Flüssigkeiten für den Körperschutz zu untersuchen. Ein solcher Körperschutz wäre unter normalen Bewegungsbedingungen flexibel und angenehm zu tragen, könnte aber aufgrund seiner Scherverdickung dem Durchschlagen von Kugeln, stechenden Messerschlägen oder ähnlichen Angriffen widerstehen (‚liquid armor‘). Im Jahr 2002 konnten Forscher des US Army Research Laboratory und der University of Delaware zeigen, dass hochfeste Stoffe wie Kevlar kugelsicherer und stichsicherer gemacht werden können, wenn sie mit einer scherverdickenden Flüssigkeit imprägniert werden.
Da die dilatante Flüssigkeit weich und formbar ist, aber bei einem Aufprall versteift und dadurch die Energie über einen größeren Bereich des Körpers verteilt, ist sie in der Lage, die Gefahr stumpfer Schlagtraumata zu verringern. Aufgrund dieser Eigenschaft werden dilatante Flüssigkeiten bereits heute in Motorradkombis und Sportbekleidung, in Hosen zum Schutz der Hüften von Osteoporose-Patienten, in Schutzhüllen für die Unterhaltungselektronik (beispielsweise für Smartphones), in industrieller Arbeitskleidung und in Protektoren für Soldaten eingesetzt.
Viele weitere interessante Anwendungen werden derzeit verfolgt; zum Beispiel der Einsatz von scherverdickenden Additiven in den Elektrolyten der Lithium-Ionen-Akkumulatoren. Bei einem Aufprall sollte sich die brennbare Flüssigkeit in einen relativ inerten Feststoff verwandeln. Ebenso sind hybride Stoßfänger von Autos, die eine dilatante Flüssigkeit enthalten, in der Lage, abhängig von der Aufprallgeschwindigkeit mit angepasster Steifigkeit zu reagieren.
Eine interessante Erfindung beschreibt das US-Patent Nr. 7,942,603 für eine "geschwindigkeitsabhängige Verkehrskontrolleinrichtung". Bei dieser Erfindung handelt es sich um eine Fahrbahnschwelle, die eine scherverdickende Flüssigkeit enthält. Wenn ein Auto mit angepasster Geschwindigkeit fährt, drückt sich die ‚intelligente‘ Bodenschwelle zusammen und lässt das Auto ungehindert passieren. Zu schnell fahrende Autos werden jedoch in ihrer Bewegung behindert, da die Flüssigkeit aufgrund der schnelleren Verformung wie ein Festkörper wirkt.
Dr. Andreas Wolf
Quellen
Andreas Wolf: Vom Kinderspielzeug zur High-Tech-Schutzausrüstung – Energiedissipative Werkstoffe https://doi.org/10.1002/ciuz.202000041 (und darin zitierte Quellen)
https://www.pnas.org/doi/epdf/10.1073/pnas.1908065116
https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.115.228304
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