Wie Polymere die Physik verändert haben

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Bereits vor Jahrtausenden verwendeten Völker Mittel- und Südamerikas Kautschuk (aus der indigenen Sprache chaucho – „Tränen des Baumes“) als Naturmaterial. Die Entdeckung der Vulkanisation durch Charles Goodyear Ende der 1830er Jahre ermöglichte es, aus dem viskoelastischen aber doch flüssigen Ausgangsstoff ein Material für industrielle Anwendungen herzustellen – das Gummi. Erst knapp ein Jahrhundert später fand Hermann Staudinger eine Erklärung für die außergewöhnlichen Eigenschaften der Elastomere: Die Elastizität von Festkörper-Materialen, entsteht durch Auslenkung der Atome und Moleküle aus ihren optimalen Gleichpositionen. Im Gegensatz dazu ist das mechanische Modul von Gummi durch die Entropieverminderung des makromolekularen Netzwerkes unter äußerer Deformation zu erklären. Infolgedessen spielen energetische Unterschiede in den lokalen Konformationen der kovalenten Bindungen keine Rolle und man kann die mechanischen Eigenschaften von Elastomeren aus den statistisch-thermodynamischen Eigenschaften ideal-flexibler molekularer Fäden quantitativ ableiten Diese Erkenntnis legte den Grundstein für die Entstehung eines neuen Wissenschaftsfeldes: der Polymerphysik.

Fluktuierende Fäden, kritische Phänomene und Skalengesetze

Das einfachste Modell einer linearen Polymerkette vernachlässigt alle Eigenschaften außer der Konnektivität entlang der Kette und wird oft als Gaußsches Kettenmodell bezeichnet. Mit dieser Annahme lässt sich zeigen, dass die mittlere Ausdehnung eines solchen statistischen Knäuels mit der Wurzel der Zahl der nach Kuhn benannten Segmente in der Kette zunimmt. Die chemischen Eigenschaften der Polymere werden hierbei einzig durch die Länge des Kuhn-Segments, also durch Biegesteifigkeit der chemischen Struktur, widergespiegelt. Dieser physikalische Ansatz ermöglicht auch die quantitative Vorhersage der Deformationseigenschaften von Elastomeren, was zuerst Kuhn, Flory, James und Guth gezeigt haben.
Vergleicht man experimentellen Daten von Elastomeren, stellt man allerdings qualitative Abweichungen vom vorhergesagten Verhalten fest, z.B. im Verlauf der uniaxialen Spannungs-Dehnungs-Kurve. Diese Abweichungen gehen , die topologischen Eigenschaften der Polymere berücksichtigt, auf die wechselseitige Undurchdringbarkeit der Polymere zurück. Damit sind polymere Netzwerke sind die ersten „topologischen Materialien“, d.h. ihre Eigenschaften sind durch die, auch als Verschlaufungen bezeichneten, topologischen Invarianten der Ketten wesentlich bestimmt. 

Die Betrachtung von Polymerketten als fluktuierende molekulare Fäden führte zur einer neuen statistischen Physik und strahlte auch auf ganz andere Bereiche aus: So konnte Edwards einen mathematischen Zusammenhang zwischen der Physik von linearen Polymeren und der Quantenmechanik herstellen, der es gestattet, thermodynamische Eigenschaften und Dichteverteilungen von Polymeren analytisch und numerisch aus einer neuen Perspektive heraus zu betrachten. Der Physiker Pierre-Gilles de Gennes konnte zeigen, dass die Zufallskonformationen von flexiblen Polymeren in der Lösung als kritisches Phänomen betrachtet werden müssen. Dadurch können die Abweichung der Eigenschaften von Polymeren in guten Lösungsmittel von denen der Gaußschen Ketten auf grundlegende Weise verstanden werden. Die „kritischen“ oder selbst-ähnlichen Eigenschaften von Polymeren gestatten die Anwendung einer sehr mächtigen Methode: die Skalentheorie. Skalenargumente, die die Existenz von Skaleneigenschaften voraussetzen, ermöglichen Vorhersagen für komplexe Polymersysteme, wie z.B. den osmotischen Druck in Polymerlösungen, die Eigenschaften von Polymerbürsten, oder das Adsorptionsverhalten von Polymeren. 
 

Neue Anwendungen möglich

Polymere zeigen neben den Entropie-kontrollierten Konformationseigenschaften neuartige Phasenübergänge in der Lösung. Besonders wasserlösliche Polymere wie Polyethylenoxid (PEO) oder Poly-N-isopropylacrylamid (PNiPAAm) weisen einen abrupten Entmischungsübergang (Phasenübergang erster Ordnung) auf, wenn man die Temperatur erhöht. Dies ist auf die direkte Bindung von Wasser über Wasserstoffbrücken an den sonst hydrophoben Polymerketten zurückzuführen. Dieses Verhalten nutzen Anwendungen für temperatur-responsive Polymerschichten oder Gele. Komplexere Lösungen enthalten neben den gelösten Polymeren zusätzlich Ko-Solute oder Ko-Lösungsmittel enthalten. Ein Beispiel: Sowohl Wasser als auch Alkohole sind gute Lösungsmittel für PNiPAAm. Eine Mischung, die ungefähr 15% Ethanol enthält, führt hingegen zur Entmischung der Polymere bzw. zu einem Kollaps von Gelen und Polymerbürsten. Eine mögliche molekulare Ursache dieses Verhaltens sind temporäre Brücken zwischen den Monomeren, die sich durch die bevorzugte Benetzung der Polymere mit dem besseren Lösungsmittel bilden. Ähnlich lassen sich auch Phasenübergänge in biologischen Zellen erklären, z.B. die Ausbildung von Tröpfchen aus RNA und RNA-bindenden Proteinen. Letztere wirken wie ein starkes Ko-Lösungsmittel und induzieren einen Phasenübergang in der Zellflüssigkeit.

Polymere können durch chemische Modifikationen oder Einbettung von Partikeln auf verschiedenste Umgebungsbedingungen mit Veränderungen ihrer Eigenschaften oder mit Phasenübergängen reagieren.  Responsivität findet man für Umgebungsparameter wie pH-Wert, Salzkonzentration, Lichtintensität, magnetische Feldstärke oder die Konzentration biochemischer Substanzen wie Enzyme. Über diese Eigenschaften lassen sich „smarte“ Materialien realisieren, die auf Umgebungsbedingungen beispielsweise durch Formänderungen reagieren (vgl. Abbildung). Durch Integration solcher responsiver Materialien lassen sich neue Sensorikanwendungen oder Aktuatoren realisieren. 
Neben responsiven Polymeren finden leitfähige oder halbleitende Polymere immer mehr Anwendung. Zwar muss man im Vergleich zu anorganischen Leitern und Halbleitern aufgrund größerer Defektdichten meist Abstriche bei den elektronischen Eigenschaften machen. – Dafür bieten die polymeren Materialien völlig neue Möglichkeiten in der Verarbeitung, z.B. Druckprozesse, und erlauben mit ihren mechanischen Eigenschaften wie hoher Deformierbarkeit oder sogar Selbstheilung eine Erweiterung zu einem Anwendungsspektrum, das sonst nicht realisierbar wäre. Beispiele sind streckbare Elektronik, ultradünne und faltbare Displays oder Wearables.

Ausblick

Die Polymerphysik ermöglicht, komplexe Systeme zu verstehen. Insbesondere durch den Einsatz von numerischen Methoden und Computersimulationen können neue, potentiell interessante Systeme entdeckt werden, die man chemisch noch nicht realisiert hat. Aber die bisherigen Methoden der Polymerphysik sind auch begrenzt, z.B. für die Vorhersage neuer Materialien oder spezifischer Monomersequenzen für bestimmte Anwendungen. Neue vielversprechende Ansätze bieten in dieser Richtung Methoden des maschinellen Lernens, z.B. um versteckte Muster in Monomersequenzen zu entdecken, die das Durchdringen von Lipidschichten und Zellmembranen ermöglichen oder zu einem bestimmten Phasenverhalten führen.
Das Leben auf der Erde baut auf Polymeren wie DNS, Proteinen, Zuckerketten etc. auf. Es ist naheliegend, dass Gesetze der Polymerphysik auch Lebensprozesse erklären können. Auch wenn viele Funktionen lebender Systeme durch biochemische Erklärungsmuster beschrieben werden, mehren sich die Hinweise auf kooperative Erscheinungen, bedingt durch Phasenübergänge in biologischen Systemen, als Trigger biologischer Prozesse. Im Gegensatz zu synthetischen Polymerlösungen sind biologische Lösungen, wie die Zellflüssigkeit, sehr komplex aufgrund der natürlichen Vielfalt der beteiligten Biopolymere. Darüber hinaus muss man die Eigenschaften biologischer Systeme oft fernab des thermodynamischen Gleichgewichts betrachten. Aktive Komponenten wie Motorproteine, deren Funktion selbst auf noch weitestgehend unverstandenen sprungartigen Konformationsänderungen der Polymere beruhen, führen zu aktiven Netzwerken und Nichtgleichgewichtsphasen. Eine große Herausforderung ist es deshalb, die Polymerphysik künftig auch auf dem Gebiet der universellen Biopolymerphysik weiterzuentwickeln. 
 

Autoren: Prof. Dr. Jens-Uwe Sommer und Prof. Dr. Andreas Fery (Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden und Technische Universität Dresden)
Redaktionelle Bearbeitung: Lisa Süssmuth, GDCh

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

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