Seit einhundert Jahren. Hermann Staudinger:
„Über Polymerisation“

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Vor hundert Jahren reichte Hermann Staudinger seinen Beitrag „Über Polymerisation“ ein, der daraufhin in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft erschien. Dies setzte eine überaus wichtige und folgenschwere wissenschaftliche, technische und industrielle Entwicklung in Gang und wirkt sich bis heute auf unseren Alltag aus. Lange Zeit war sein Konzept umstritten, obwohl die Industrie schon lange Zeit davor Kunststoffe produzierte.

Neue Erkenntnis und doch altbekannt

Am 13. März 1920 ging in der Redaktion einer der bedeutendsten chemischen Zeitschriften der Artikel „Über Polymerisation“ von Hermann Staudinger ein, der dann im Juni desselben Jahres in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft erschien.

Der Begriff Polymere (von griechisch „Viel-Teilchen“) war zu dieser Zeit schon seit etwa hundert Jahren bekannt, allerdings wusste man nicht, was sich wirklich dahinter verbirgt. Es gab verschiedene Vorstellungen, was Polymere seien. Zunächst stellte man sich Verbindungen mit gleicher Zusammensetzung, aber unterschiedlicher Größe vor, dann vor allem Verbindungen aus zusammengelagerten Einzelteilchen. Selbst die schnell gewachsene Industrie der Kunststoffe (der Begriff wurde 1911 für vulkanisierten Naturkautschuk, chemisch veränderte Naturstoffe, Kunstharze, synthetische Kunststoffe, Kunstfasern, -lacke, Isolierstoffe, Filme etc. geprägt) wusste damals eigentlich nicht, mit welchen Materialien genau sie ihr gutes Geld verdiente

Erst Hermann Staudinger entwickelte aus seinen Untersuchungen heraus das revolutionäre Konzept, dass Polymere bzw. Kunststoffe aus langen Kettenmolekülen mit tausenden von Grundbausteinen aufgebaut seien, verknüpft mit denselben Bindungen, wie sie von kleinen Molekülen bekannt waren. Diese Riesenmoleküle bezeichnete er ab 1922 als „Makromoleküle“ [1]. 
Mit seiner Theorie hatte er lange gegen die hergebrachten, alten Vorstellungskräfte der Mehrzahl seiner Kollegen zu kämpfen. Seine experimentellen Beweise konnten aber schließlich nicht wiederlegt werden. Somit öffnete Staudinger das Tor für die intensive Forschung zu polymeren Materialien und legte damit den Grundstein für die weitere, rasante Entwicklung der Kunststoffindustrie. 
Für seine Entdeckungen erhielt Hermann Staudinger im Jahr 1953 den Nobelpreis für Chemie.

Wirkung bis heute

Heute wäre unser Lebensstandard ohne polymere Materialien nahezu unvorstellbar: Wer verzichtet schon gerne auf Handy, Laptop, Sportkleidung, Skateboard, Surfbrett, Klebstoffe, Lacke, moderne Werkstoffe in energieeffizienteren und nachhaltigeren Autos und Flugzeugen, sterile Bluttransfusionsbeutel, lichthärtende Zahnfüllungen statt Amalgam? In allen Bereichen unseres Alltags finden wir inzwischen Polymere.
Jedoch, schon die alten Griechen wussten: „Es gibt nichts Gutes ohne etwas Schlechtes“.
Auch Kunststoffe, umgangssprachlich Plastik genannt, haben eine Schattenseite und ein in der Verallgemeinerung unrechtmäßig schlechtes Image. 

Das heutige „Plastik-Dilemma“ hat weltweit verheerende Ausmaße angenommen. Größtenteils ist dies einer ganz bestimmte Art von Kunststoffmaterial verschuldet, nämlich dem unkontrolliert weggeworfenen Plastikverpackungsmüll wie Plastikfolien und -flaschen. Als Makro- und Mikroplastik gelangen sie in Millionen Tonnen jährlich in unsere Ozeane. Wir alle kennen die Bilder der vielen Strände voller Plastikverpackungsmüll und der daran verendeten Fische und Vögel.
Biologisch abbaubare Biopolymere könnten ein Teil dazu beitragen, das Problem einzudämmen.
 
 

Vorausgedacht

Wie weitsichtig, vorausschauend und umfassend Staudinger dachte, zeigt sich auch daran, dass er 1920 erkannte, dass nicht nur synthetische Kunststoffe, z. B. Polystyrol, sondern auch alle Biopolymere wie Cellulose, Stärke, Eiweiße und Naturkautschuk aus langen Kettenmolekülen aufgebaut sind und Makromoleküle eine zentrale Rolle in allen biologischen Bereichen spielen. [1] Mit seiner Frau Magda, einer promovierten Biologin, tauschte er sich über die biologischen Konsequenzen des Makromolekülkonzeptes aus. [2]

Schon damals bildete Hermann Staudinger – unter Mitwirkung seiner Frau – „eine Brücke zwischen den gerade entstehenden Wissenschaften der Polymere und derjenigen der Biologie“. Damit wurde er nicht nur zum „Vater der Makromolekularen Chemie“, sondern auch zum „Vater der chemischen Biologie und der molekularen Bionik“. [3]
In seiner Nobel-Rede – in der er sich entgegen der Etikette zunächst vor seiner Frau und dann erst vor dem schwedischen König verbeugte [2] – betonte Staudinger, dass die Existenz von Makromolekülen und das sich ständig vertiefende Wissen über ihre Eigenschaften die Natur der Grundbausteine enthüllen, die die lebenden Zellen brauchen, um biologische Materie zu erzeugen. [4] 
 
 

Biopolymere von Anbeginn

Die Natur hat seit Milliarden Jahren Makromoleküle produziert: Proteine, Nukleinsäuren, Cellulose, Stärke. Der Mensch hat einige der daraus entstandenen Materialien wie Leder, Horn, Sehnen, Fasern schon früh genutzt.

Spätestens vor 180 Jahren, ab der chemischen Vulkanisation des Naturkautschuks 1839 durch Goodyear, veränderte der Mensch die natürlich vorkommenden Biopolymere in vielfältiger Weise.
Ab 1910 wurde dann das erste erfolgreiche, synthetische polymere Material, das Phenolharz (Bakelit) hergestellt. Danach folgte eine ungeheure Zahl verschiedener Klassen und Typen von Polymeren – häufig als Werkstoffe, aber auch als Funktionsträger (z. B. Li-Polymer-Batterie, Polymer-Leuchtdioden oder Träger von Arzneimitteln).
Heute gewinnen Biopolymere – entweder erneut oder in neuen Varianten, oft bioabbaubar – zunehmend an Bedeutung.

Synthetische Kunststoffe sind nur ein kleiner Teil des gesamten – auch geschichtlichen – Spektrums polymerer Stoffe.
Hermann Staudinger (s. auch weiteren Beitrag) hat diese Vielfalt schon vor einhundert Jahren erkannt.

Autor: Prof. Dr. Dr.h.c. Günter Lattermann, Hochschule für Technik und Wirtschaft HTW Berlin, Deutsche Gesellschaft für Kunststoffgeschichte dgkg. 

Literatur

[1] W. Kern, „Zur Entwicklung der makromolekularen Chemie“, Angew. Chemie 1951, 63, 229-231.

[2] Bärbel Maul, Akademikerinnen in der Nachkriegszeit, Dissertation Mainz 2001, Campus Verlag, Frankfurt 2002, 182-183.

[3] Rolf Mühlhaupt, „Bioinspired Macromolecular Chemistry - Paying Tribute to the Pioneering Advances of Hermann Staudinger and Helmut Ringsdorf”, Macromol. Chem. Phys. 2010, 211, 121-126.

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

Kommentare

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben