Gezähmte Radikale - die Atomtransfer-Radikalische Polymerisation

 

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Die Atomtransfer-Radikalische Polymerisation (ATRP) gehört zu den effektivsten und weitest verbreiteten Methoden der kontrollierten radikalischen Polymerisation. Mit ihr können auf einfache Weise komplexe Polymere mit spezieller Architektur und maßgeschneiderter chemischer Funktionalität hergestellt werden, die mit alternativen Methoden nur schwer zugängig sind. Der Prozess kann relativ leicht in bestehende industrielle Verfahren eingebaut werden und ermöglicht eine breite Palette von Polymeren mit neuartigen Funktionen – egal ob für Klebstoffe, Arzneimittel oder abbaubare Kunststoffe.

Vielseitig und doch einfach gestrickt

Von Getränkeflasche bis Computerbildschirm: Polymere Kunststoffe beherrschen unsere Lebenswelt wie keine andere Materialklasse. Trotz ihrer Vielseitigkeit sind die meisten Polymere einfach gestrickt. Häufig sind es sogenannte Homopolymere, also Stoffe, die nur aus einem Monomerbaustein bestehen. Zudem ist ihre Molmassenverteilung in der Regel ziemlich breit, das heißt, es finden sich Polymerketten mit sehr unterschiedlicher Länge im Material. Der Chemiker kann die Eigenschaften dieser Stoffe nur beschränkt beeinflussen. Doch die ATRP erlaubt es, Homopolymere mit sehr viel engerer Molmassenverteilung zu erzeugen und ermöglicht den Aufbau von funktionalisierten sowie oberflächengebundenen Polymeren.

Radikalische Polymerisation

Der grundlegende Mechanismus der konventionellen radikalischen Polymerisation, einem technisch sehr bedeutsamen Prozess, läuft folgendermaßen ab:

Initiator-Zerfall: 

Ini2  → 2 Ini*

Start:    

Ini* + M → P1*

Wachstum:   

Pn+ M →  Pn+1*

Abbruch:        

Pn* + Pm*  → Pn+m     oder    Pn  + Pm

Im ersten Schritt zerfällt ein Initiatormolekül (Ini2) und bildet dabei Radikale (Ini*), die mit Monomermolekülen (M) zu immer größeren Radikalen (Pn*) wachsen. Diese Radikale reagieren in der Wachstumsphase mit weiteren Monomeren und bilden eine Polymerkette. Die Kette wächst dann nicht mehr, wenn zwei Radikale aufeinandertreffen und sich kombinieren. Folglich bricht die Kette ab (Terminierung).

Bei der freien radikalischen Polymerisation starten ständig neue Ketten, die nach wenigen Millisekunden wachsen und terminieren.  Dies erschwert den Einfluss auf deren Struktur.

Mit der Radikalpolymerisation mit reversibler Deaktivierung (reversible-deactivation radical polymerization, RDRP) lassen sich die Eigenschaften des Polymers kontrollieren, indem der Reaktion ein Stoff hinzuzufügt wird, der die wachsenden radikalischen Polymerketten vorübergehend deaktiviert und somit den Einfluss der Terminierung auf den Prozess zurückdrängt. In einem effizienten RDRP-Prozess liegt zu jedem Zeitpunkt die weit überwiegende Mehrzahl der Ketten in einem solchen inaktiven, „schlafenden” Zustand vor. So wachsen die Ketten langsamer. Wenn alle Ketten zu Beginn der Polymerisation gestartet werden, haben alle im zeitlichen Mittel die gleiche Wahrscheinlichkeit zu wachsen. Das Kettenwachstum kann auch gestoppt und zu einem späteren Zeitpunkt wieder gestartet werden, was zum Beispiel bei einem zwischenzeitlichen Monomerwechsel leichter Blockcopolymeren ermöglicht.
 

Mechanismus der ATRP

Bei der ATRP – dem prominentesten Vertreter der RDRP – werden Halogene X, vor allem Brom (Br) und Chlor (Cl), als deaktivierende Stoffe verwendet. Diese werden durch Übergangsmetallkomplexe Mtn/L reversibel zur Verfügung gestellt. Als Metall (Mt) dient dabei vorwiegend leicht zugängliches und kostengünstiges Kupfer oder Eisen. Die Liganden (L) – meist aliphatische Amine, Imine oder Liganden auf Pyridinbasis – bewirken eine Löslichkeit der Metalle in den organischen Medien der Polymerisationsgemische und modifizieren deren elektronischen Atomtransfer-Eigenschaften. Durch diese Atomübertragungsreaktion – daher der Name ATRP – wird das wachsende Polymerradikal „gezähmt“ und reversibel „schlafen gelegt“. Folglich kann das Radikal nicht mehr terminieren. In einer kurzen „Wachphase“ lagern sich Monomere eher an als Radikale. Damit ist das Kettenwachstum wahrscheinlicher als ein Abbruch der Polymerisation.

Kontrolle der Eigenschaften

Das Molekulargewicht (M'n) der entstehenden Polymere hängt vom anfänglichen Konzentrationsverhältnis von Monomer (cM,0) zu Initiator (cI,0) sowie vom Monomerumsatz (U) ab. Dieser Zusammenhang erlaubt die Vorhersage des Molekulargewichts:

M'n=(cM,0/cI,0) x U x Molmasse des Monomers

Als Initiatoren für die ATRP – nicht zu verwechseln mit den radikalliefernden Initiatoren der konventionellen radikalischen Polymerisation – werden oft niedermolekulare Alkylhalogenide R-X eingesetzt, die durch Halogenabstraktion das erste kurze Polymerradikal liefern. Wird dieser Starter bereits im Vorfeld chemisch modifiziert, entstehen durch die anschließende ATRP terminal-funktionalisierte Polymere oder oberflächengebundene Polymerbürsten.
Die Alkylhalogenide können ein oder mehrere Halogenatome enthalten. Je nach Anzahl der Halogenatome und der Struktur des Initiatormoleküls kann die Architektur der hergestellten Polymere variieren. So reicht diese von linear (unter Verwendung von Alkylhalogeniden mit einem einzelnen Halogenatom) über sternförmig bis pinselartig (mehrere Halogenatome im Initiator). Maßgeschneiderte Sternpolymere entstehen z.B. durch Initiatoren mit Alkylhalogenidgruppen, die an einen einzelnen Kern gebunden sind.
 

Industrielle Anwendung

Nahezu jede beliebige Polymerisation lässt sich mit der ATRP-Technologie ausführen und der Prozess kann in bestehenden Industrieanlagen problemlos durchgeführt werden. Die Technologie wurde bereits an mehrere internationale Unternehmen lizenziert, die bereits Polymeren auf ATRP-Basis in Japan, Europa und den USA produzieren. ATRP wurde bislang erfolgreich zur Herstellung verbesserter Pigmentdispergiermittel zum Beispiel für den Tintenstrahldruck, die Kosmetik und Chromatographie eingesetzt. Unter anderem auch für Verpackungen, Klebstoffe, Dichtungsmittel und für selbstreinigende Fenster.

Weitere Anwendungen in der Erprobung umfassen beispielsweise Arzneimittelabgabemethoden, Beschichtungen für kardiovaskuläre Stents, Gerüste für die Knochenregeneration, biozide Oberflächen und abbaubare Kunststoffe. 

Autor: Autor: Prof. Dr. Philipp Vana, MBA (Georg-August-Universität Göttingen)
Redaktionelle Bearbeitung: Lisa Süssmuth, GDCh

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

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