Was ist eigentlich Morphium (Morphin)?

 

Benannt nach Morpheus, dem Gott der Träume in der griechischen Mythologie, hat Morphin oder Morphium seit seiner Entdeckung im Jahr 1804 die Schmerztherapie revolutioniert. In diesem Beitrag geht es um die Entwicklung des Morphins vom ersten isolierten Alkaloid aus dem Schlafmohn bis hin zu seinen modernen Abkömmlingen und synthetischen Varianten. Wir betrachten das immense Potential dieser Verbindungsgruppe als Schmerzmittel, aber auch seine Risiken als Suchtmittel.

„Vom Stoff der Träume“

Zwei Zitate zur Chemie sollen diesem Artikel über einen bedeutenden pharmazeutischen Wirkstoff vorangestellt werden, der sich zur Leitsubstanz stark wirksamer Schmerzmittel (Analgetika) entwickelt hat. Vom Schweizer Arzt und Alchemisten Paracelsus (1493-1541) stammt die Aussage: „Der wahre Zweck der Chemie besteht nicht darin, Gold zu machen, sondern Medizin herzustellen“. 

Und rund vier Jahrhunderte später formulierte der US-amerikanische Physiker Steven Weinberg (1933-2021), einer der Begründer der Teilchenphysik und 1979 Physiknobelpreisträger, folgenden Satz: „Alles was im Gehirn geschieht, beruht auf den Gesetzen der Chemie und der Physik“. Beide Zitate führen uns unmittelbar zur Substanzklasse von Arzneistoffen, wie zum Beispiel dem Alkaloid Morphin, die im zentralen Nervensystem wirken. 

Benannt nach Morpheus, dem Gott der Träume

Der schmerzlindernde, alkalisch reagierende Wirkstoff Morphin war das erste in Reinform hergestellte Alkaloid. Es wurde im Jahr 1804 von Friedrich Sertürner, damals noch Apothekengehilfe und später ein bedeutender Apotheker, erstmals als Inhaltsstoff einer Pflanze isoliert. 

Sertürner (1783-1841) gab dieser Substanz aufgrund ihrer einschläfernden Eigenschaften den Namen Morphium, in Anlehnung an Morpheus, den Gott der Träume in der griechischen Mythologie.

Ein Symbol dieses Gottes ist die Samenkapsel des Schlafmohns (Papaver somniferum), aus deren Milchsaft Opium gewonnen wird (Abb. 2). Zu Opium gibt es einen eigenen Beitrag hier auf FaszinationChemie. 

Hauptbestandteil des Opiums ist Morphium, für das sich im Laufe der Zeit in der Fachwelt der Trivialname Morphin durchgesetzt hat. Der Morphin-Anteil im Opium liegt bei durchschnittlich 12%, aber je nach Herkunft des Milchsaftes schwankt der der Gehalt stark. 

Morphin ist Hauptbestandteil von Opium

Die komplizierte Totalsynthese von Morphin gelang erst Mitte der 1950er Jahre, so dass wir auch heute noch unseren Bedarf an diesem Schmerzmittel aus natürlichen Quellen decken. Opioid-Alkaloide wie Morphin sind zudem Rauschgifte, die den betäubungsmittelrechtlichen Vorschriften unterliegen.

Morphin ist schwer löslich in Wasser. Seine in die Therapie eingeführten Salze (Morphinhydrochlorid, Morphinsulfat) lösen sich rund 300mal besser in Wasser. Industriell werden Morphin und andere Inhaltsstoffe aus dem Rohopium, dem eingetrockneten Milchsaft des Schlafmohns, mithilfe von Extraktionsverfahren und mehreren Fällungsschritten gewonnen.

Isolierung erfolgt aus Rohopium

Nach der erstmaligen Isolierung des Morphins aus dem Rohopium durch Friedrich Sertürner zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dauerte es fast 150 Jahre, ehe alle Erkenntnisse zum Morphinmolekül (Summenformel, Strukturformel, Totalsynthese, Nachweis, chemische und physikalische sowie pharmakodynamische und pharmakokinetische Eigenschaften usw.) zusammengetragen waren. 

Im Zentrum des Interesses stand damals, den endgültigen Beweis für die Struktur (Konstitution) des Morphinmoleküls zu führen. Dafür hatte 1870 die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin ein Preisgeld von 100 Dukaten ausgeschrieben (nach aktuellem Tagespreis für Goldmünzen wären dies heute rund 13.400 €).

Chemische Formeln von Morphin und seiner Derivate

Die heute gebräuchliche tricyclische Schreibweise geht auf Überlegungen des britischen Chemienobelpreisträgers Robert Robinson aus dem Jahre 1925 zurück. Sie wurde zwei Jahre später vom hessischen Chemiker Clemens Schöpf bestätigt. 

Für die weitere Entwicklung, insbesondere die Suche nach vollsynthetischen Opioiden, war die Darstellungsweise des österreichischen Arztes und Pharmakologen Otto Schaumann (1891-1977) besonders zielführend. 

Schaumann fasste das Morphinmolekül als ein Derivat des 4-Phenyl-piperidins (Abb. 5) auf. Das nach ihm benannte „Schaumann-Prinzip“ stellte einen Zusammenhang zwischen chemischer Konstitution und morphinartiger Wirkung her und identifizierte die Teilstruktur des Morphins, die für seine schmerzlindernde Wirkung verantwortlich ist (analgiphore Gruppe). Diese Überlegungen trugen erheblich zur beschleunigten Entwicklung synthetischer Opioide bei.

Er kam zu der Ansicht, dass ein synthetisches Opioid mit einer starken schmerzstillenden Wirkung über einen Phenylrest (Abb. 6, links oben) verfügen müsse, der direkt mit einem quartären Kohlenstoffatom (Abb. 6, Pfeil) verknüpft ist. Dieses Kohlenstoffatom ist außerdem über eine Brücke von zwei bis drei Kohlenstoffatomen mit einem basischen Zentrum (N-CH3, Abb. 6, rechts unten) verbunden. 

Entdeckung der Struktur führte zu einer ganzen Stoffklasse von Schmerzmitteln

Diese These war erfolgreich und führte 1937 zu den synthetischen Opioiden Pethidin (DolantinTM) sowie Methadon (PolamidonTM), das neben der Schmerztherapie auch im Rahmen einer Substitutionstherapie Schwerstdrogensüchtiger eingesetzt wird. Methadon ist ein Racemat, also eine Mischung aus zwei Substanzen, die sich zueinander wie Bild und Spiegelbild verhalten. Nach dem zweiten Weltkrieg kam eine dieser beiden Substanzen, das optisch reine Levomethadon (L-PolamidonTM) als starkes Schmerzmittel in den Handel.

Bekannter Vertreter der Opioide: Fentanyl

Aufbauend auf den Forschungsergebnissen von Otto Schaumann hat der belgische Chemiker Paul Janssen (1926-2003), einer der großen Arzneimittelforscher unserer Zeit, rund zwei Jahrzehnte später das quartäre C-Atom durch einen tertiären Stickstoff ersetzt und gelangte so in die hochwirksame Stoffklasse der Fentanyl-Derivate. Zu Fentanyl gibt es einen eigenen Beitrag auf FaszinationChemie. 

Fentanyl-Derivate zählen aktuell zu den wirksamsten Schmerzmitteln und transdermale Fentanyl-Pflaster sind zur Behandlung chronischer Schmerzpatienten und Tumorerkrankter aus dem Arzneischatz nicht mehr wegzudenken. Auch Fentanyl-Derivate fallen unter die Betäubungsmittelverordnung. 

Fentanyl ist schon in geringsten Dosen wirksam und man schätzt, dass allein in den USA im Jahr 2023 über 75.000 Tote an einer Überdosis Fentanyl verstorben sind. Zudem wird Fentanyl in der weltweiten Drogenszene immer wieder als Streckungsmittel anderer Drogen verwendet. Dies ist für Süchtige äußerst gefährlich, weil dadurch die Gefahr der versehentlichen Überdosierung sehr hoch ist.

Weitere Abkömmlinge des Morphins: Codein und Heroin

Auf der Suche nach neuen, hochwirksamen Schmerzmitteln (Analgetika) hatte die pharmazeutische Wirkstoffforschung aber nicht nur neue totalsynthetische Arzneistoffe im Blick. Die partialsynthetische Abwandlung des Morphinmoleküls war gleichfalls ein erfolgreiches Konzept auf dem Weg zu wirksameren Analgetika.

Die Methylierung der phenolischen Hydroxylgruppe im Morphin führt zum hustenstillenden (antitussiv wirksamen) Codein. Codein kommt auch im Opiumsaft mit einem Anteil von 0,3 bis 3% vor. 

Längst nicht so harmlos wie zunächst gedacht: Heroin

Durch Acetylierung der phenolischen und alkoholischen Hydroxylgruppen mit Essigsäureanhydrid erhält man Diamorphin (Diacetylmorphin), das am 27. Juni 1898 unter dem Markenname HeroinTM durch die Firma Bayer in die Therapie eingeführt wurde. Die Geschichte des Heroins und wie es zu seinem Namen kam, wird in einem eigenen Beitrag auf FaszinationChemie beschrieben.

Im Vergleich zur Stammsubstanz Morphin besitzt Diamorphin etwa eine 1,5- bis 3-fach höhere analgetische Wirksamkeit. Man nahm zunächst an, Heroin habe alle Vorteile von Morphin, aber kaum Nebenwirkungen. Ein Trugschluss! 

Bereits einige Jahre später erkannte man das sehr hohe Abhängigkeitspotential und die rasche Toleranzentwicklung der Verbindung (man braucht immer höhere Dosen, um die gleiche Wirksamkeit zu erzielen). In vielen Ländern wurde die Anwendung von Heroin verboten und auch die Firma Bayer nahm das Präparat aus seinem Produktangebot.

Die Hydrierung einer der Doppelbindungen führte zur Gruppe der Dihydromorphin-Derivate und durch Oxidation der sekundären alkoholischen Hydroxylgruppe an C-6 zum Keton gelangte man in die Wirkstoffklasse der Morphinone. Veränderung der Alkylgruppe am Stickstoffatom führte beispielsweise zu Stoffen wie Naloxon, ein Antidot (Antagonist) der Morphin-Wirkung, oder zu Buprenorphin, ein wichtiges Medikament in der Substitutionstherapie schwerst Drogenabhängiger.

Wie wirkt Morphin?

Der aus dem eingetrockneten Milchsaft des Schlafmohns gewonnene Naturstoff Morphin ist somit Heilmittel, Rauschgift, Spielwiese für halbsynthetische Derivatisierungen und Leitbild für neue totalsynthetische Schmerzmittel zugleich.

Morphin ist ein zentral wirksamer Arzneistoff (Agonist), der an spezifischen Opioidrezeptoren im menschlichen Gehirn angreift. Er verhindert die Schmerzweiterleitung und setzt somit das Schmerzempfinden (die Schmerzwahrnehmung) von Patienten herab. Die Gabe von Morphin und Morphin-Derivaten ist indiziert bei starken bis sehr starken akuten und chronischen Schmerzen (postoperative Schmerzen, Tumor- und Unfallschmerzen).

Allerdings können nicht alle Formen von Schmerz mit einem solch hochwirksamen Analgetikum ausgeschaltet werden. Beispielsweise sind Schmerzen, die durch das Gift (Brennhaare) der australischen Brennnessel verursacht werden, nahezu morphinresistent. 

Als Begleiterscheinung einer Therapie mit Morphin und seinen Derivaten können Obstipation (Verstopfung), Übelkeit und Erbrechen auftreten. Die Gefahr der Gewöhnung (Toleranz) ist gegeben. Daher sollte die Beendigung der Schmerztherapie ausschleichend (stetige Reduzierung der verabreichten Dosis) erfolgen. 

Die Überdosierung mit Morphin und anderen Opioiden führt als Nebenwirkung auch zur Dämpfung bis zur kompletten Lähmung des Atemzentrums (Atemstillstand). Mit dem Stoff Naloxon (s. oben) verfügt der Arzt über ein wirksames Gegenmittel (Antidot) bei Morphin-Vergiftungen. 

Morphin beeinträchtigt die Fahrtüchtigkeit

Morphin kann das Reaktionsvermögen und damit die Fahrtüchtigkeit einschränken Ein generelles Fahrverbot ist bei regelkonformer Anwendung nicht nötig. Patienten, die aus medizinischen Gründen auf Opioide angewiesen sind, können von ihrem Arzt oder Ärztin einen sogenannten Opioid-Ausweis erhalten, der ihnen bei bestimmungsmäßigem Gebrauch die Fahrtüchtigkeit bestätigt.

Bei intravenöser oder intramuskulärer Verabreichung liegt die Bioverfügbarkeit von Morphin bei 100%, wohingegen bei oraler Gabe aufgrund einer raschen Biotransformation bei der ersten Leberpassage (hoher First-Pass-Effekt) die Bioverfügbarkeit des Präparates nur etwa 20-40% der applizierten Dosis beträgt.


Der Beitrag wurde vom Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit der Seniorexperten Chemie, einer Fachgruppe der Gesellschaft Deutscher Chemiker, erstellt. 

Autor: Prof. Dr. Eberhard Ehlers (bearbeitet durch kjs, Redaktion FaszinationChemie)


In unserer Rubrik „Chemie überall“ geht es um chemische Verbindungen oder chemische Verfahren, die wir im Alltag nutzen oder um Substanzen, die immer mal wieder in den Schlagzeilen sind. Die Beiträge in leicht verständlicher Form sind von Chemikerinnen und Chemikern geschrieben. Alle Beiträge der Reihe: https://faszinationchemie.de/chemie-ueberall

Quellen

Ehrhardt/Ruschig, „Arzneimittel, Entwicklung, Wirkung, Darstellung“, Band I, Seite 76 – Therapeutika mit Wirkung auf das zentrale Nervensystem, Verlag Chemie, Weinheim/Bergstraße, 1972 – ISBN 3-527-35374-2 (Gesamtausgabe) und ISBN 3-527-25375-0 (Band I) 

K. Aktories, U. Förstermann, F. Hofmann, K. Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 11. Auflage, München 2013, page 211

https://de.wikipedia.org/wiki/Opium#Bestandteile_von_Opium

https://de.wikipedia.org/wiki/Morphin

Titelbild: 
Morpheus, Gott der Träume. Gemälde von Jean-Bernard Restout (Bildnachweis: Jean-Bernard Restout artist QS:P170,Q2119254, Restout - Morpheus, Wikimedia Commons, gemeinfrei)

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